„Wehret den Anfängen? Wir stecken doch schon mittendrin“

Eva Maria Hillmann hat als Jüdin den Nazi-Terror überlebt. Ihr Bild ist Teil der Ausstellung „Gegen das Vergessen“, die in Leipzig zu sehen ist. Dass dort Fotos geschändet und zerstört wurden, hat sie nicht überrascht. Doch die 88-Jährige wünscht sich mehr Konsequenz.

Eva MariaHillmann hat es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Vor ihr auf dem Tisch steht eine Thermoskanne mit Kaffee, es gibt Kuchen und Kekse. Hillmann ist 88 Jahre alt. Sie spielt gerne Klavier, aber die Finger machen nicht mehr mit. Sie liebt Bach, Jazz, die Olsenbande. Und wie leicht wäre es, nur darüber zu reden. Mit dieser Frau, die so viel lacht. Stattdessen muss man mit ihr über Angriffe reden, die sich gegen Menschen wie sie richten. Menschen, die den Terror der Nazi-Zeit überlebt haben, und jetzt ihr Gesicht zeigen.

„Gegen das Vergessen“, so heißt eine Ausstellung, die derzeit in Leipzig zu sehen ist. Es sind Fotografien von Männern und Frauen, die vor den Nazis flohen, in den Konzentrationslagern litten, in Verstecken ausharrten. Der Fotograf Luigi Toscano sieht seine Ausstellung auch als „Provokation“, weil die Bilder nicht an den Wänden eines Museums hängen, sondern dort stehen, wo jeden Tag Tausende Menschen vorbeilaufen, wo man ihnen nur schwer ausweichen kann: im Leipziger Hauptbahnhof, auf dem Willy-Brandt-Platz.

Erinnerung an düstere Zeiten

Die Bilder schützt kein Glas, kein Zaun – das macht sie nahbar und zu einem leichten Ziel: Mehrfach haben Unbekannte die Porträts beschädigt. Sie schmierten Hitlerbärtchen in die Gesichter, ein Foto wurde aufgeschlitzt – und Eva Maria Hillmann muss sich fragen, ob ihr Bild das nächste ist. Sie sagt: „Es würde mich zumindest nicht wundern“.

Hillmann wohnt in Waldheim (Mittelsachsen), sie braucht einen Rollator, kommt nicht mehr so oft raus – aber sie weiß, dass sich in Sachsen, in Deutschland gerade etwas verschiebt:

Dass jüdische Studenten der Universität Leipzig ihre Davidsterne wegpacken, aus Angst vor Pöbeleien, findet sie schrecklich. Dass AfDler und Christdemokraten mit dem Rechtsextremen Marin Sellner über die Vertreibung von Menschen beraten, die nicht in ihr Weltbild passen, erinnert sie an düstere Zeiten. Als ihre eigene Familie auseinandergerissen wurde.

Kindheit ohne Vater und Schwester

1935 in Leipzig geboren, wuchs Eva Maria Hillmann ohne Vater auf: Kurt war Kommunist, saß jahrelang wegen der Vorbereitung von Hochverrat im Zuchthaus. Man stellte ihm Hafterleichterung in Aussicht, vorausgesetzt er lässt sich von seiner Frau scheiden: Rahel, Genossin – und Jüdin.

Kurt weigerte sich, wollte sich nicht von der Familie lossagen. „So hat er uns geschützt“, erzählt Hillmann. Doch sicher war die Familie deswegen nicht. 1939 schickte ihre Mutter die älteste Tochter, Yvonne, nach Großbritannien. Im schottischen Edinburgh kam sie bei zwei Lehrerinnen unter.

Eva war noch zu klein. Sie blieb in Leipzig. Um sie kümmerte sich vor allem die Großmutter. Hillmann beschreibt sie als eine wohlhabende, liebevolle Frau – und Anhängerin von Adolf Hitler: „Wenn der in der Stadt war, hat sie sich ein kleines Stühlchen genommen, um vom Straßenrand die Parade zu sehen. Erst als sie aufgefordert wurde, sich von Schwägerin und Enkeln loszusagen, da war das mit dem Nationalsozialismus für sie vorbei.“

Hillmann war acht Jahre alt, als Leipzig bombardiert wurde. Sie musste mit ansehen, wie das Wohnhaus in Flammen aufging. Im Frühjahr 1945 wurde Mutter Rahel in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Die Tochter versteckte sich bei Bekannten der Familie im Leipziger Stadtteil Marienbrunn. Sie durfte selten raus. Wenn es klingelte, musste sie in einen Nebenraum. So blieb sie von der Deportation verschont.

Geschichten der Mutter kaum ausgehalten

Nach Kriegsende kehrte Vater Kurt zurück. Als magere Gestalt, die sich auf Krücken stützte, mit dichtem Bart. Später folgte Mutter Rahel. Hillmann erinnert sich, dass sie offen über das sprach, was in Theresienstadt geschehen war.

Vielleicht weil sie es als ihre Pflicht sah, vielleicht weil es einfach raus musste. Sie redete mit Freunden, Nachbarn, Schulklassen, mit ihrer Tochter, in der Küche beim Kartoffelschälen. Sie erzählte, wie sie nach der Arbeit auf dem Feld, Kartoffeln ins Lager schmuggelte. Sie berichtete von ausgemergelten Häftlingen, die sie um Wasser anbettelten. Sie erzählte, bis die Tochter es nicht mehr aushielt, weg rannte. „Ich war ein Kind“, sagt Hillmann.

Geschichten, wie die ihrer Familie, füllen Sachbücher und Romane. Sie sind Stoff für Dokumentation und Spielfilme. Schulklassen fahren in Gedenkstätten. In den vergangenen Tagen wurde in ganz Deutschland den Opfern der NS-Verbrechen gedacht. Trotzdem sind immer mehr Menschen der Meinung, Juden hätten zu viel Einfluss. Trotzdem steigt die Zahl antisemitischer Angriffe. Trotzdem können einige die Fotos von Holocaust-Überlebenden nicht ertragen. Hat Hillmann dafür eine Erklärung?

Sie dreht in ihrem Wohnzimmer noch mal die Zeit zurück: „In der DDR war Antifaschismus staatlich verordnet – aber eine Gesellschaft lässt sich nicht so einfach umkrempeln“, sagt Hillmann. Neben ihr sitzt Ehemann Siegfried. Er kennt die Geschichten seiner Frau, und er weiß, welche sie jetzt erzählen sollte. Die Geschichte von Yvonne, Hillmanns großer Schwester.

Als Yvonne 1947 aus Edinburgh nach Leipzig zurückkehrte, wollte der Vater, dass sie als „Verfolgte des Faschismus“ anerkannt wird. So hatte sie Ansprüche auf Erholungsreisen, eine bessere Rente. Der Antrag wurde abgelehnt. Ihr sei es ja gut gegangen – eine Begründung, die Eva Maria Hillmann bis heute noch empört.

Yvonne war nicht im Gefängnis wie ihr Vater. Sie hat nicht erlebt, was ihre Mutter im Konzentrationslager durchmachen musste. Sie musste sich nicht verstecken wie ihre Schwester – aber auch Yvonne hatte gelitten, unter der Trennung, der Fremde, der Ungewissheit. Es hatte sie psychisch krank gemacht. Das Leben in einer zerbombten Stadt, inmitten einer verheerten Gesellschaft, hielt sie nicht aus. Sie nahm sich das Leben.

Hillmann will, dass die AfD verboten wird

Den Antrag für Tochter Eva hat der Vater erst gar nicht gestellt. „In den ganzen Ämtern waren ja auch immer noch die Nazis von damals“, sagt Hillmann. Und in der Bevölkerung habe es natürlich Antisemitismus gegeben, man habe ihn nur nicht nach außen hin gezeigt.

Wer Hakenkreuze malte, den Hitlergruß zeigte, dumme Sprüche klopfte, für den gab es harte Strafen. Hillmann will die damaligen Zustände nicht zurück. Aber sie wünscht sich mehr Konsequenz: Wenn Galgen gezeigt werden, an deren Schlingen die Namen von Politikern baumeln, wenn Neonazis Konzerte organisieren, wenn bei Pro-Palästina-Demonstrationen die Verbrechen der Hamas verharmlost werden.

Sie versteht nicht, warum nicht längst ein Verbot der AfD in die Wege geleitet wurde. Gegen eine Partei, die in Teilen als rechtsextrem gilt. „Wehret den Anfängen? Wir stecken doch schon mittendrin.“ Dass jetzt zu Tausenden Menschen auf die Straße gehen, freut Eva Maria Hillmann. Auch in Waldheim hat sich ein neues Bündnis gebildet. „Die Frage ist, was langfristig daraus wird“.

Es ist dunkel geworden im Wohnzimmer. Eva Maria Hillmann lehnt sich in ihrem Sessel erschöpft zurück, es ist Zeit zu gehen. Sie manövriert ihren Rollator um das Klavier herum, auf dem ein neunarmiger Leuchter steht. Freunde haben ihn zu DDR-Zeiten aus dem Westen mitgebracht – seitdem zündet sie die Kerzen zu Chanukka (Anm. d. Red. achttägiges jüdisches Fest zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem 164 v. Chr.) an.

Vor einem Jahr hat sie an der Haustür auch ein silbernes Röhrchen angebracht, darin steckt eine Schriftrolle. Die Mesusa soll Unheil abhalten. Sie sei eigentlich nicht religiös, sagt Eva Maria Hillmann. Aber ihre jüdische Identität zeigen, das sei ihr schon wichtig. Und wenn man sie fragt, warum, schaltet sich sofort Ehemann Siegfried ein:

„Warum denn nicht?“ Und in der Frage liegt ein Trotz, der so wunderbar zu diesem Ehepaar passt, in dieser Zeit aber auch bitter nötig ist.